Zusammenfassung
- Definition:Rotationsfehler der Tibia, durch übermäßige Torsion nach medial oder lateral.
- Häufigkeit:Mediale Tibiatorsion häufige Ursache für Innengang bei Kleinkindern. Laterale Tibiatorsion selten.
- Symptome:Bei medialer Tibiatorsion oft Stolpern. Bei lateraler Tibiatorsion Fuß- und Knieschmerzen möglich.
- Befunde:In der Regel Innengang („Toeing in“) bzw. Außengang („Toeing out“).
- Diagnostik:Klinische Messung der Tibiatorsion: Patient*in in Bauchlage, Knie 90 Grad flektiert. Winkel zwischen Fußlängsachse und Oberschenkelachse (physiologisch ca. 15 Grad); zur OP-Planung Torsions-MRT.
- Therapie:Bei medialer Tibiatorsion oft spontane Korrektur im Wachstum. Laterale Tibiatorsion ohne Rückbildungstendenz. Bei schweren Deformitäten oder Symptomen (z. B. Fußschmerzen durch mediales Einknicken oder Knieschmerzen durch Patellasubluxationen bei lateraler Tibiatorsion) derotierende Osteotomie.
Allgemeine Informationen
Definition
- Tibiatorsion = Winkel zwischen der Tangente an die Rückfläche der Tibiakondyle zur Malleolargabel
- physiologisch: laterale Tibiatorsion von 2–5 Grad (Kleinkinder) bzw. 15–20 Grad (Adoleszente und Erwachsene) mit resultierendem Fußöffnungswinkel von 10 Grad1
- Mediale Tibiatorsion/Innentorsion1
- häufigste Ursache für Innengang bei Kleinkindern
- hohe Rückbildungstendenz
- Laterale Tibiatorsion/Außentorsion
- Beeinflusst negativ die Fußstatik und führt zu vermehrtem medialem Einknicken.
- keine Rückbildungstendenz
- Pathologische Tibiatorsion oft kombiniert mit pathologischer Femurtorsion
- Siehe auch Coxa antetorta und Coxa retrotorta.
- „Torsional Malignment“: Eine erhöhte femorale Antetorsion kann kompensatorisch zu vermehrter tibialer Außentorsion führen.
Häufigkeit
- Mediale Tibiatorsion1
- häufig, vor allem bei Kleinkindern
- bei Mädchen und Jungen gleich häufig
- in 2/3 der Fälle bilateral
- Laterale Tibiatorsion
- deutlich seltener als mediale Tibiatorsion
Ätiologie und Pathogenese
- Physiologische Entwicklung
- Eine Tibiatorsion erhöht sich von anfänglicher Innentorsion von 2–4 Grad bis ins Alter von 8–10 Jahren in eine Außentorsion von 15–20 Grad.
- Daraus resultiert ein Fußöffnungswinkel von ca. 5–10 Grad.
- Ursachen für die Entwicklung einer pathologischen Torsion generell,
- neurologische Grunderkrankung (z. B. Zerebralparese)
- posttraumatisch (Fraktur) oder postinfektiös (z. B. Osteomyelitis)
- Klumpfuß
- idiopathisch, Korrelation mit pathologischer Femurtorsion
- Ursachen für Außentorsion
- Kompensation einer erhöhten femoralen Antetorsion
- Folge einer Fibula-Hemimelie
- Kontraktur des iliotibialen Bandes
- Ursachen für Innentorsion
- Genu varum
- kongenitaler Metatarsus varus
- Hypoplasie der Tibia
- Morbus Blount
- infantile Tibia vara durch Störung der medialen Wachstumsfuge
ICD-10
- M21.86 Sonstige näher bezeichnete erworbene Deformitäten der Extremitäten: Unterschenkel (Fibula, Tibia, Kniegelenk), inkl. Tibiatorsion
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Typischer klinischer Befund mit „Toeing out“ (Fuß übermäßig nach außen gerichtet bei lateraler Tibiatorsion) bzw. „Toeing in“ bei medialer Tibiatorsion
- physiologischer Fußöffnungswinkel von 10 Grad nach außen
- Cave: oft Kombination mit pathologischer Femurtorsion!
- Bei alleiniger tibialer Fehltorsion zeigt die Patella nach vorne.
- Bei zusätzlicher femoraler Fehltorsion zeigt die Patella nach medial („Kneeing in“ bei Coxa antetorta) bzw. lateral („Kneeing out“ bei Coxa retrotorta).
- Ggf. Torsions-MRT/-CT zur OP-Planung
Differenzialdiagnosen
- Mediale Tibiatorsion (andere Ursachen für den Innengang)
- Laterale Tibiatorsion (andere Ursachen für den Außengang)
Anamnese
- Konsultationsgrund durch Eltern oft nach Laufbeginn des Kindes
- Mediale Tibiatorsion
- Innengang, evtl. mit verstärktem Stolpern
- Laterale Tibiatorsion
- Außengang („Charlie-Chaplin-Füße“)
Klinische Untersuchung
- Gangbild
- „Toeing in/out“ und/oder „Kneeing in/out“
- Siehe Abschnitt Diagnostische Kriterien.
- „Toeing in/out“ und/oder „Kneeing in/out“
- Fußöffnungswinkel
- im Stand physiologisch ca. 10 Grad nach außen rotiert
- Klinische Messung des Torsionswinkels der Tibia,
- Kind in Bauchlage
- Knie 90 Grad flektiert
- Sprunggelenk Neutralstellung
- Beurteilung des Winkels zwischen Oberschenkel- und Fußlängsachse
- Ebenfalls wichtig zur Beurteilung der Biomechanik
- Messung des Torsionswinkels des Oberschenkels
- Kind in Bauchlage
- Eine Hand der Untersucher*in tastet den Trochanter major und spürt, wenn er lateral am prominentesten ist.
- Mit der anderen Hand wird der Unterschenkel bewegt (Kniegelenk in Flexion).
- bei maximaler Lateralisierung des Trochanter major Ablesen der Antetorsion anhand der Abweichung des Unterschenkels von der Senkrechten.
- Beinachse
- Genu varum/valgum
- Beinlängendifferenz?
- Fußdeformität?
- z. B. Knick-Senk-Fuß
- Bewegungsausmaß von Hüft-, Knie- und Sprunggelenk
- Messung des Torsionswinkels des Oberschenkels
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Bildgebung
- Röntgen der Unterschenkel seitlich mit angrenzenden Gelenken
- Ergeben sich in dieser Ebene ebenfalls pathologische Achsverhältnisse
der Tibia, so müssen ggf. zusätzlich Aufnahmen in
schrägem Strahlengang (in der Ebene der größten Deformität)
erfolgen.
- Ergeben sich in dieser Ebene ebenfalls pathologische Achsverhältnisse
- Torsions-MRT/Torsions-CT
- Bei Kindern aufgrund der Strahlenbelastung MRT den Vorzug geben.
- in der Regel nur zur OP-Planung notwendig
- Röntgen der Unterschenkel seitlich mit angrenzenden Gelenken
Indikationen zur Überweisung
- Überweisung an Kinderorthopäd*in bei:
- ausgeprägter Innentorsion über das 8. Lebensjahr hinaus
- bis zu diesem Alter oft spontane Korrektur
- Außentorsion über 40 Grad
- Symptomatik (z. B. Knieschmerzen oder Fußinstabilität).
- ausgeprägter Innentorsion über das 8. Lebensjahr hinaus
Therapie
Therapieziele
- Beschwerdefreies Gangbild
- Sekundäre Komplikationen verhindern (z. B. mediale Gonarthrose).
Allgemeines zur Therapie
- Eine konservative Beeinflussung der Tibiatorsion ist nicht möglich.
- die Indikation zur derotierenden Osteotomie ist wegen kontroverser Datenlage sehr umstritten.
- Operative Eingriffe sollten wegen des hohen Rezidivrisikos generell nicht vor Abschluss des 8. Lebensjahres erfolgen.
- Mediale Tibiatorsion1
- Bei der Mehrzahl der Patient*innen Rückbildung der Fehlstellung, sodass initial eine „Watch and Wait“-Behandlung ausreichend ist.
- Derotationsosteotomie bei schweren Fällen mit Störung des Gangbilds erwägen.
- Laterale Tibiatorsion
- keine Rückbildungstendenz
- Bei Außenrotation > 40 Grad Derotationsosteotomie erwägen.
Konservative Therapie
- Eine konservative Behandlung mit Nachtschienen, Spezialschuhwerk oder Orthesen ist unnötig und ineffektiv.1
Operative Therapie
- Eine derotierende Osteotomie ist umstritten und nur bei ausgeprägter Deformität vertretbar.2
- Indikationen, die für eine Osteotomie sprechen:3
- Kind älter als 8 Jahre
- Eine erhebliche Fehlstellung, die zu Funktionsstörung führt.
- „Torsional Malignment“: Kombination aus femoraler und tibialer Torsionsstörung
- symptomatische Fußinstabilität bei Außentorsion
- bei Außentorsion mit Fußöffnungswinkel > 40 Grad2
- möglicherweise erhöhtes Risiko für Folgekomplikationen wie mediale Gonarthrose und patellofemorale Schmerzen
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Mediale Tibiatorsion
- spontane Korrektur sehr wahrscheinlich
- Laterale Tibiatorsion
- keine Rückbildungstendenz
- häufig Schmerzen durch Fußinstabilität (mediales Einknicken) oder patellofemorale Instabilität mit Ausbildung medialer Gonarthrose1
Komplikationen
- Gangstörungen
- bei medialer Tibiatorsion Stolpern durch Verhaken der Fußspitze an kontralateralem Bein
- bei lateraler Tibiatorsion mediales Einknicken des Fußes mit Schmerzen durch Instabilität des Fußgewölbes
- Möglicherweise präarthrotische Deformität durch Außentorsion
- evtl. erhöhtes Risiko für mediale Gonarthrose
- erhöhtes Risiko für Patella-(Sub-)Luxation
- Postoperative Komplikationen nach Osteotomie1
- u. a. Pseudarthrose, Rezidiv der Fehlstellung
Prognose
- Sehr gute Prognose bei medialer Tibiatorsion mit in der Regel spontaner Rückbildung im Wachstum
- Bei ausgeprägter lateraler Tibiatorsion ist oft eine derotierende Osteotomie notwendig, die ein effektives und sicheres Therapieverfahren darstellt.1
Quellen
Literatur
- Patel M. Tibial torsion. Medscape, last updated Apr 09, 2021. emedicine.medscape.com
- Drexler M, Dwyer T, Dolkart O, Goldstein Y, Steinberg EL, Chakravertty R, et al. Tibial rotational osteotomy and distal tuberosity transfer for patella subluxation secondary to excessive external tibial torsion: surgical technique and clinical outcome. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 2014 Nov; 22(11): 2682-9. PubMed
- Davids JR, Davis RB. Tibial torsion: significance and measurement. Gait Posture 2007; 26(2):169-71. PubMed
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster