Allgemeine Informationen
Definition
- Zehenspitzengang: Gangbild, bei dem die Patient*innen zu mehr als 50 % der Zeit auf dem Vorfuß laufen.
- Ursachen können von einer kindlichen Angewohnheit bis hin zu einer ernsten zugrunde liegenden neuromuskulären Erkrankung reichen.1
- Einteilung
- Zehengang infolge neuromuskulärer Erkrankungen (infantile Zerebralparese, Myelomeningozele und Muskeldystrophie)
- Bei diesen Erkrankungen kommt es zu einer Muskelspastik in der Wadenmuskulatur (Musculus gastrocnemius und Musculus soleus).
- angeborene verkürzte Achillessehne (Achillessehnenverkürzung)
- Habitueller/idiopathischer Zehenspitzengang: Der Zehengang bleibt auch nach dem 3. bis 4. Lebensjahr (physiologischer Zeitraum) bestehen.
- Zehengang infolge neuromuskulärer Erkrankungen (infantile Zerebralparese, Myelomeningozele und Muskeldystrophie)
Häufigkeit
- Bei Kindern im Alter von 5,5 Jahren findet sich ein Zehengang bei 2 % der gesunden und 41 % der Kinder mit neuropsychiatrischen Erkrankungen oder Entwicklungsverzögerungen.2
- Infantile Zerebralparese
- Ein kindlicher Zehengang tritt bei weniger als der Hälfte dieser Patient*innen auf.
- Paralytische Muskelerkrankung
- Am häufigsten kommt die Muskeldystrophie Typ Duchenne mit einer Inzidenz von 1 auf 3.500–4.500 lebendgeborene Jungen vor.
- Kinder mit Muskeldystrophie Typ Duchenne haben oft kräftige Waden (Pseudohypertrophie).
- Habitueller/idiopathischer Zehenspitzengang
- Die Prävalenz ist unklar.
- In der Literatur schwanken die Angaben zur Häufigkeit.1-4
Diagnostische Überlegungen
- Der vorübergehende Zehengang bei Kindern bis zum Ende des 4. Lebensjahres in Abwesenheit anderer Symptome ist häufig ein physiologisches Phänomen.
- Führt der Zehengang nach dem 4. Lebensjahr zu Beschwerden, sollte das Kind beobachtet und eventuell eingehender untersucht werden.
- Der Zehengang kann ein Anzeichen für eine ernste zugrunde liegende neuromuskuläre Erkrankung sein.
ICD-10
- G71 Primäre Myopathien
- G71.0 Muskeldystrophie
- G80 Infantile Zerebralparese
- G80.0 Spastische tetraplegische Zerebralparese
- G80.1 Spastische diplegische Zerebralparese
- G80.2 Infantile hemiplegische Zerebralparese
- G80.3 Dyskinetische Zerebralparese
- G80.4 Ataktische Zerebralparese
- G80.8 Sonstige infantile Zerebralparese
- G80.9 Infantile Zerebralparese, nicht näher bezeichnet
- R26 Störungen des Ganges und der Mobilität
- R26.0 Ataktischer Gang
- R26.1 Paretischer Gang
- R26.2 Gehbeschwerden, anderenorts nicht klassifiziert
- R26.8 Sonstige und nicht näher bezeichnete Störungen des Ganges und der Mobilität
Differenzialdiagnosen
Habitueller Zehenspitzengang
- Siehe Artikel Habitueller Zehenspitzengang.
- Ursachen
- idiopathisch
- Der Zehenspitzengang kann zu einer fixierten Kontraktur der Achillessehne führen.
- Prävalenz
- relativ häufig
- physiologisch bis zum Ende des 4. Lebensjahres
- Symptome und Befunde
- Der Zehengang tritt in der Regel symmetrisch auf.
- Viele Kinder mit habituellem Zehenspitzengang können nach Aufforderung auf dem gesamten Fuß stehen.
- Diagnostik
- Der Ausschluss anderer neuromuskulärer Erkrankungen erlaubt die Diagnosestellung.
- Therapie
- in der Regel selbstlimitierend5
- Eventuell ist es nötig, den Fuß/die Füße über einige Monate rezidivierend einzugipsen.
- Wird eine Kontraktur festgestellt, so ist evtl. eine operative Korrektur nötig.
Muskelspastik
- Ursachen
- vielfältige Ursachen
- infantile Zerebralparese
- Die häufigste Ursache ist eine spastische Zerebralparese mit einer Verletzung im motorischen Kortex oder Tractus spinalis.
- Es kann auch eine spastische Kontraktur der Achillessehne vorliegen.
- Eine Spastik in Form des Zehengangs kann im späteren Lebensverlauf auch durch einen Schlaganfall oder eine Verletzung des Rückenmarks hervorgerufen werden.
- Prävalenz
- je nach Häufigkeit der Grunderkrankung
- Symptome und Befunde
- in der Regel multiple neurologische Auffälligkeiten mit Spastik in einer oder mehreren Körperregionen
- selten symmetrisch
- Therapie
- Eine genaue Klärung der Ursache und der Beeinflussung des Gangs ist für eine zielgerichtete Therapie ausschlaggebend.
- Physiotherapie, Orthese Gipsverband, evtl. in Verbindung mit einer Botulinumtoxininjektion in die Wadenmuskulatur oder eine Operation zur Verlängerung der Achillessehne (bzw. Sehnenplatte des Musculus gastrocnemius) stellen therapeutische Optionen dar.
Angeborene Achillessehnenverkürzung
- Ursachen
- Einige Kinder werden mit einer verkürzten Achillessehne geboren.
- Neben der verkürzten Achillessehne sind in der Regel keine weiteren Muskeln im Körper betroffen.
- Therapie
- Physiotherapie, Gipsverband
- evtl. Operation zur teilweisen Verlängerung der Achillessehne
Paralytische Muskelerkrankung
- Ursachen
- Wird durch den Verlust von Vorderhornzellen im Rückenmark oder einen destruktiven Prozess in der Muskulatur hervorgerufen.
- Das klassische Beispiel einer Muskelerkrankung ist die Muskeldystrophie Typ Duchenne, bei der es zu einem fortschreitenden Verlust von Muskelgewebe mit gleichzeitiger Fibrose kommt.
- Die Diagnose wird in der Regel vor dem 3. Lebensjahr gestellt. Da die Plantarflexoren im Sprunggelenk stärker sind als die Muskeln für die Dorsalflexion, führt die Fibrose zu einer plantaren Flexionskontraktur (Spitzfuß, Pes equinus).
- Seltenere paralytische Muskelerkrankungen, die zu Zehengang führen können, sind bestimmte Arten der Muskeldystrophie und angeborenen Myopathie.
- Prävalenz
- Die Erkrankung tritt meist später als der habituelle Zehenspitzengang auf.
- Symptome und Befunde
- Das klinische Krankheitsbild hängt von der Grunderkrankung ab.
- Therapie
- Wie bei der Spastik ist es für die Therapie von entscheidender Bedeutung, die Dynamik des veränderten Ganges zu verstehen.
- Dehnungsübungen, Gipsverband, Orthesen oder Operation
Reduzierte Mobilität im Sprunggelenk
- Kann nach Arthropathien (z. B. Arthritis) oder nach einem Trauma auftreten und ist selten symmetrisch.
Diagnostik
- Primär klinische Diagnose
- Differenzialdiagnosen beachten
Anamnese
- Hat das Kind eine Grunderkrankung?
- Kann das Kind die Fersen auf den Boden setzen?
- Bestehen weitere neuromuskuläre Auffälligkeiten?
- Gibt es Abweichungen von den Meilensteinen in der Entwicklung?
- Liegt eine positive Familienanamnese für einen Zehengang vor?
Klinische Untersuchung
- Neurologische Untersuchung (Anzeichen einer neurologischen Erkrankung?)
- Kind bis auf Unterwäsche entkleiden lassen:
- Auffälligkeiten der Haut?
- Becken-/Schultertiefstand? Verlauf der Wirbelsäule?
- Skoliose?
- Fußdeformität?
- Spastische Tonuserhöhung auch in entspannter Sitzposition mit baumelnden Beinen?
- Kann das Kind mit flachem Fuß auf dem Boden stehen?
- Wenn ja, deutet dies auf den habituellen Zehenspitzengang hin.
- Gang
- Anzeichen von Spastik, Lokalisation der Spastik?
- Symmetrischer Gang?
- Symmetrisches Mitführen der Arme?
- Inwieweit wird der Zehengang durch eine Kontraktur der Achillessehne oder infolge einer Spastik der Oberschenkelmuskeln und Hüftflexoren (Sprunggang) verursacht?
- Achillessehne
- Liegt eine Kontraktur der Sehne vor? Wie beweglich ist das Sprunggelenk bei gebeugtem oder gestrecktem Knie?
- Paralytische Muskelerkrankung
- Inwieweit beeinflusst die Spitzfußstellung die Stabilität im Knie?
Ergänzende Untersuchungen
- Röntgen des Rückens?
- Bei einer Muskelspastik, die nicht infolge einer infantilen Zerebralparese entstanden ist, oder bei einer isolierten Schwäche in den unteren Extremitäten, Röntgen des thorakolumbalen Überganges erwägen.
- Spina bifida und ein erweiterter Raum zwischen den Pedikeln können auf eine intraspinale Anomalie hindeuten.
- MRT
- Bei einem pathologischen Röntgenbefund oder Verdacht auf eine Verletzung der Rückenmarks, sollte eine MRT des gesamten Rückens durchgeführt werden, um ein spinale Anomalie als Ursache der Spastik auszuschließen.
Überweisung
- Neurologie: Bei Zehengang infolge von Spastik oder Muskeldystrophie
- Orthopädie: Bei angeborener Achillessehnenverkürzung oder Nichtanschlagen der Therapie bei habituellem Zehenspitzengang
Therapie
Therapiemethoden
- Die Therapie von Kindern mit Zehengang erstreckt sich über die Beobachtung bis hin zu einem operativen Eingriff zur Verlängerung der Sehnen in der Wade.
- Eine genaue Klärung der zugrunde liegenden Ursache ist für eine zielgerichtete Therapie ausschlaggebend.
- Nicht-chirurgische Therapien des Zehengangs umfassen Beobachtung, Dehnungsübungen, Gipsverband und Orthesen.
Konservative Behandlung
- Idiopathischer Zehengang
- Kleinkinder mit idiopathischem Zehengang ohne fixierte Kontraktur können beobachtet und regelmäßig nachuntersucht werden, z. B. einmal im Jahr. Bei auftretenden Kontrakturen der Achillessehne oder wenn der Zustand nicht spontan ausheilt, sollte eine aktive Therapie in Betracht gezogen werden.
- Zehengang aufgrund einer Muskelspastik
- Dehnungsübungen allein haben keine Wirkung.
- Zur Verlängerung der Achillessehne kann ein Gips angelegt werden, jedoch kehren die Kontrakturen schnell zurück, wenn die Therapie nicht um eine Orthese ergänzt wird.
- Eine intramuskuläre Injektion von Botulinumtoxin verbessert die Wirkung der Gipsverbände nicht immer.2
- Verschwindet der Zehengang trotz Gipsverbänden und Orthesen nicht, sollte eine operative Verlängerung der Achillessehne in Erwägung gezogen werden, insbesondere, wenn sich Patient*innen bereits am Ende des Wachstums befinden. Nach abgeschlossenem Knochenwachstum ist es weniger wahrscheinlich, dass eine Spitzfußstellung zurückgeht.
- Zehengang aufgrund einer paralytischen Muskelerkrankung
- Dehnungsübungen und Orthesen sollten regelmäßig gemeinsam angewendet werden.
- In diesen Fällen ist eine operative Verlängerung der Achillessehne nur in Ausnahmefällen angezeigt, da dadurch die Muskeln geschwächt und die Gehfähigkeit reduziert werden können.
- Gipsverbände über einen längeren Zeitraum können die Muskeln ebenfalls schwächen und sollten vermieden werden.
Operation
- Bei einem Zehengang ist es in den meisten Fällen ausreichend, die Achillessehne in einem perkutanen Eingriff zu verlängern.
- Bei einer zugrunde liegenden neuromuskulären Erkrankung müssen die Auswirkungen eines chirurgischen Eingriffs eingehender analysiert werden.
- Idiopathischer Zehengang
- Führt die konservative Behandlung nicht zu dem gewünschten Ergebnis und kann das Sprunggelenk nicht ausreichend gebeugt werden, kann eine chirurgische Verlängerung der Achillessehne in Erwägung gezogen werden.
- Spastischer Zehengang
- Vor der Verlängerung der Achillessehne soll abgeklärt werden, ob der Zehengang durch eine spastische Flexion der Kniegelenkmuskulatur, evtl. auch der Hüftgelenksmuskulatur, verursacht wird.
- Sind Veränderungen in Knie und Hüfte für den Zehengang verantwortlich, darf die Achillessehne nicht verlängert werden. Stattdessen sollen evtl. die Oberschenkel- und Hüftflexoren verlängert werden.
- Patient*innen mit einseitiger Spastik (spastische Hemiplegie) leiden in der Regel unter einer echten Spitzfußstellung. In diesen Fällen kann eine Verlängerung der Achillessehne helfen.
- Zehengang infolge einer paralytischen Muskelerkrankung
- Eine Verlängerung der Achillessehne ist nur dann angezeigt, wenn das Knie vollständig gestreckt werden kann und der Quadrizepsmuskel eine nahezu physiologische Stärke aufweist.
- Patient*innen mit Muskeldystrophie Typ Duchenne verwenden den Zehengang, um die schwache Kniestreckung zu kompensieren und müssen daher nicht immer operativ behandelt werden.7
- Follow-up nach der Operation
- Nach der chirurgischen Verlängerung der Achillessehne sollten Patient*innen etwa 6 Wochen mit einem Gipsstiefel immobilisiert werden.
- Nach Entfernung des Gipses wird mittels Physiotherapie mobilisiert.
- Operierte, noch im Wachstum befindliche Patient*innen mit Spastik oder paralytischer Muskelerkrankung sollen regelmäßig kontrolliert werden, da das Risiko besteht, dass die Kontrakturen zurückkehren. Rezidiven kann mittels Dehnungsübungen und/oder Orthesen vorgebeugt werden.
Komplikationen
- Bei allen Patient*innen mit wiederkehrenden Kontrakturen nach der Operation sollte eine neue diagnostische Beurteilung erfolgen.
- Eventuell sind im Zuge dessen Anzeichen von neuromuskulären Erkrankungen oder intraspinale Pathologien sichtbar.
- Rezidive treten auch bei Patient*innen mit spastischen oder paralytischen Muskelerkrankungen auf.
- Bei Patient*innen mit Zehengang infolge einer spastischen oder paralytischen Muskelerkrankung kann es nach der Operation zu einer herabgesetzten Funktionsfähigkeit und eingeschränkten Mobilität kommen.
- Diese Komplikationen können vermieden werden, indem die Verlängerung der Achillessehne vor dem Eingriff umfassend beurteilt wird. Kommt es nach der Verlängerung der Achillessehne zu einer Funktionseinschränkung, sollen Fuß und Fußgelenk durch eine Orthese gestützt werden.
Prognose
- Idiopathischer Zehengang
- Ein Kind mit idiopathischem Zehengang gilt als geheilt, wenn der Zehengang spontan sistiert, konservativ oder mittels Verlängerung der Achillessehne behandelt wurde und seit mehr als 2 Jahren die Füße physiologisch aufgesetzt werden.
- Spätere Rezidive sind unwahrscheinlich, Spätfolgen treten in der Regel nicht auf.
- Spastische und paralytische Muskelerkrankung
- Diese Erkrankungen sind schlechter prognostizierbar.
- Patient*innen sollten auf unbestimmte Zeit regelmäßig nachuntersucht werden, da Rezidive auftreten können.
Quellen
Literatur
- Krochak R. Toe walking. eMedicine, June 20, 2014. emedicine.medscape.com
- Ruzbarsky JJ, Scher D, Dodwell E. Toe walking: causes, epidemiology, assessment, and treatment. Curr Opin Pediatr. 2016 Feb;28(1):40-6. doi: 10.1097/MOP.0000000000000302. PMID: 26709689. https://journals.lww.com. journals.lww.com
- Engström P, Tedroff K. The prevalence and course of idiopathic toe-walking in 5-year-old children. Pediatrics. 2012 Aug. 130(2):279-84. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Engelbert R, Gorter JW, Uiterwaal C, et.al. Idiopathic toe-walking in children, adolescents and young adults: a matter of local or generalised stiffness?. BMC Musculoskelet Disord 2011; 12: 61. PubMed
- Eastwood DM, Menelaus MB, et al. Idiopathic toe-walking: Does treatment alter the natural history. J of Ped Orthop 2000; 9: 47-9. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Caserta AJ, Pacey V, Fahey M, Gray K, Engelbert RH, Williams CM. Interventions for idiopathic toe walking. Cochrane Database Syst Rev. 2019 Oct 6;10(10):CD012363. doi: 10.1002/14651858.CD012363.pub2. PMID: 31587271; PMCID: PMC6778693. https://www.ncbi.nlm.nih.gov. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Williams EA, Read L, Ellis A. The management of equinus deformity in Duchenne muscular dystrophy. J Bone Joint Surg Br 1984; 66: 546-50. PubMed
Autor*innen
- Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster