Soziale Phobie

Zusammenfassung

  • Definition:Angst vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen. Die Angst führt zur Vermeidung zwischenmenschlicher Begegnungen. Bei ausgeprägter Symptomatik meist niedriges Selbstwertgefühl und Furcht vor Kritik.
  • Häufigkeit:Lebenszeitprävalenz ca. 10–15 %; Verhältnis Frauen zu Männern ca. 2:1; durchschnittliches Ersterkrankungsalter 13 Jahre.
  • Symptome:Ausgeprägte Angst vor einer oder mehreren sozialen Situationen, in denen die oder der Betroffene einer möglichen Beobachtung durch andere ausgesetzt ist. Evtl. sekundäre Angstsymptome wie Erröten, Händezittern, Übelkeit oder Harndrang.
  • Befunde:Evtl. Zeichen autonomer Hyperaktivität.
  • Diagnostik:Basiert auf der Anamnese; ggf. umfassendere Psychodiagnostik zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung und Detektion psychischer Komorbidität. Körperliche Untersuchung, Basislabor und EKG zum Ausschluss somatischer Angstursachen; ggf. weiterführende internistische, neurologische oder HNO-ärztliche Diagnostik.
  • Therapie:Psychotherapie: kognitive Verhaltenstherapie, evtl. psychodynamische Verfahren, Patientenselbsthilfe- und Angehörigengruppen. Medikamentöse Therapie: 1. Wahl sind die SSRI Escitalopram, Paroxetin oder Sertralin und der SNRI Venlafaxin. Moclobemid ist ein Reservemedikament. Benzodiazepine wegen des hohen Suchtpotenzials nur in gut begründeten Ausnahmefällen.

Allgemeine Informationen

Definition nach ICD-10

  • F40.1 Soziale Phobien
    • Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen, die zur Vermeidung sozialer Situationen führt.
    • Umfassendere soziale Phobien sind in der Regel mit niedrigem Selbstwertgefühl und Furcht vor Kritik verbunden.
    • Sie können sich in Beschwerden wie Erröten, Händezittern, Übelkeit oder Harndrang äußern.
      • Dabei meint die betreffende Person manchmal, dass eine dieser sekundären Manifestationen der Angst das primäre Problem darstellt.
      • Die Symptome können sich bis zu Panikattacken steigern.

Synonyme

  • Soziale Angststörung
  • Soziophobie
  • Anthropophobie
  • Soziale Neurose

Komorbidität

Häufigkeit

  • Prävalenz
    • Punktprävalenz: 2–5 %
    • 12-Monats-Prävalenz: 2,7 %
    • Lebenszeitprävalenz: 10–15 %
    • Bei etwa der Hälfte der Betroffenen liegt eine generalisierte soziale Phobie vor; sie empfinden Angst vor den meisten sozialen Situationen und versuchen, sie zu vermeiden.
  • Geschlecht und Alter
    • Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer.
      • Laut einer US-amerikanischen Studie suchen jedoch etwa gleich viele Männer wie Frauen Hilfe.
    • erstmaliges Auftreten oft in jungen Jahren
      • Das durchschnittliche Ersterkrankungsalter liegt bei 13 Jahren.
      • In 95 % der Fälle erfolgt das erstmalige Auftreten im Alter unter 20 Jahren.

Ätiologie und Pathogenese

  • Biologische, psychische und soziale Ursachen
    • Genetische Faktoren können im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren zur Entwicklung einer Soziophobie beitragen.
  • Psychosoziale Faktoren
    • Personen, die als Kleinkinder schüchtern und gehemmt sind, haben ein erhöhtes Risiko, als Jugendliche eine soziale Phobie zu entwickeln.
      • Die meisten schüchternen Kinder entwickeln jedoch keine Soziophobie.
    • Kinder, deren Eltern überängstlich, stark kontrollierend und überprotektiv sind und denen es an emotionaler Wärme fehlt, scheinen ein erhöhtes Risiko zu haben, später eine soziale Phobie zu entwickeln.
      • Ob eine Kausalität zwischen elterlicher Haltung und soziophober Entwicklung der Kinder besteht, ist allerdings unklar.
  • Neurobiologische Korrelate
    • Bei bildgebenden Untersuchungen betroffener Patient*innen wurde in sozial herausfordernden Situationen eine erhöhte Reaktivität in der Amygdala nachgewiesen.
    • Andere Studien weisen Veränderungen im Serotonin- und Dopaminsystem nach.
    • Soziale Phobie, induziert durch Situationen, die vom Betroffenen als bedrohlich erlebt werden, z. B. Leistungsdruck, geht mit einer messbar erhöhten Reaktivität des vegetativen Nervensystems einher.

Konsequenzen

  • Menschen mit Soziophobie entwickeln Vermeidungsstrategien bei Aktivitäten, bei denen sie einer Beurteilung durch andere ausgesetzt sind – wie zur Schule gehen oder an Treffen teilnehmen; oder aber sie nehmen unter hoher Anspannung an diesen sozialen Aktivitäten teil.
  • Sie schneiden in der Schule und im Arbeitsleben schlechter ab, und es ist es weniger wahrscheinlich, dass sie Lebenspartner*innen finden.
  • Die Soziophobie ist unterdiagnostiziert und -behandelt.

ICD-10

  • F40 Phobische Störungen
    • F40.1 Soziale Phobien

Diagnostik

Diagnostische Kriterien nach DSM-5

  • Ausgeprägte Angst vor einer oder mehreren sozialen Situationen, in denen die betroffene Person einer möglichen Beobachtung durch andere ausgesetzt ist, z. B.:
    • soziale Interaktionen wie ein Gespräch führen
    • beobachtet sein, etwa beim Essen oder Trinken
    • Leistungen vor anderen Menschen erbringen, z. B. eine Rede halten
  • Die Betroffenen befürchten, dass sie sich in einer Weise verhalten werden oder dass sie Angstsymptome zeigt, die von den Mitmenschen negativ bewertet werden.
  • Soziale Situationen
    • verursachen fast immer Angst.
    • werden vermieden oder mit starker Anspannung und Angst ausgehalten.
  • Die Angst ist
    • unverhältnismäßig hoch gegenüber der wirklichen Bedrohung durch die soziale Situation.
    • nicht auf die Wirkung von Drogen oder Medikamenten oder auf eine andere Erkrankung zurückzuführen.
  • Die Angst oder das Vermeidungsverhalten
    • halten lange an, meist länger als 6 Monate.
    • verursachen eine klinisch relevante Belastung oder Behinderung im sozialen oder beruflichen Leben oder in anderen Lebensbereichen.
    • lassen sich nicht besser durch eine andere psychische Erkrankung erklären:
  • Falls eine andere Krankheit besteht (z. B. M. Parkinson, Übergewicht, Entstellungen durch Verletzungen) ist die Angst oder das Vermeidungsverhalten übermäßig oder von dieser Erkrankung unabhängig.

Differenzialdiagnosen

Schüchternheit und Lampenfieber

  • Soziophobie unterscheidet sich von Schüchternheit und Lampenfieber durch die Schwere des Zustands, er ist tiefgreifender und führt zu erheblichem Leidensdruck und Funktionseinschränkungen.

Andere psychische Störungen

Somatische Erkrankungen

Anamnese

  • Angst beim Kontakt mit anderen Menschen
    • Beispielsweise Angst davor,
      • in einer Gruppe das Wort zu ergreifen.
      • in der Öffentlichkeit zu essen oder zu trinken.
      • mit Autoritätspersonen wie Vorgesetzten und Lehrer*innen zu sprechen.
    • Der zentrale Katastrophengedanke ist: „Was ist, wenn ich mich lächerlich mache?“
  • Körperliche Symptome
  • Katastrophendenken
    • Die Betroffenen konzentrieren sich auf alles, was in einem sozialen Kontext schief gehen kann und malen sich stets die schlimmstmöglichen Folgen eigener Fehler aus.
  • Allmählich entwickelt sich ein Vermeidungsverhalten.
    • Die Patient*innen verbergen ihre soziale Phobie aus Scham und aus Angst, nicht ernst genommen zu werden.
    • Sie manövrieren sich an den Stresssituationen vorbei und vermeiden subjektiv unangenehm empfundene Situationen.
    • Dies führt zu Isolation und reduziert die Chancen auf Ausbildung und bei der Arbeit.
    • Niedergeschlagenheit und Depressionen können die Folge sein.
    • Missbrauch von Alkohol oder Medikamenten kann ein Versuch der Selbstmedikation sein.
  • Komplikationen
    • Schwere Depressionen zusammen mit Soziophobie erhöhen das Risiko von Suiziden.
    • Bei Alkoholabhängigkeit erhöht eine begleitende soziale Phobie das Rezidivrisiko.

Testverfahren

  • Zur Ergänzung der Anamnese kann einer der folgenden Fragebögen bei der Diagnose von Angststörungen behilflich sein.
  • Social Phobia Inventory (SPIN), Kurzfassung Mini-SPIN
    • Bewertung wie folgt:
      • 0 – kein
      • 1 – wenig
      • 2 – mäßig
      • 3 – sehr
      • 4 – extrem
    • zu bewertende Aussagen
      • „Aus Angst vor Unannehmlichkeiten vermeide ich es, mit Menschen zu sprechen oder gewisse Sachen zu unternehmen.“
      • „Ich vermeide Aktivitäten, bei denen ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehe.“
      • „Verlegen zu sein oder dumm auszusehen, sind meine größten Ängste.“
    • Bei Punktwerten über 6 kann mit etwa 90-prozentiger Sensitivität und Spezifität eine soziale Phobie diagnostiziert werden.
  • Für die Abgrenzung verschiedener Angststörungen
    • Mini-International Neuropsychiatric Interview (MINI)
  • Für alle Arten von Angststörungen und Depressionen
    • Patient Health Questionnaire for Depression and Anxiety
      • ausführliche Form mit 78 Fragen zur psychischen Gesundheit
      • Ultrakurzform zur Erfassung von generalisierter Angststörung und Depressivität: PHQ-4
  • Für Schweregradbestimmung und Verlaufsdiagnostik bei Angststörungen
    • Liebowitz Social Anxiety Scale (LSAS-SR)
    • Beck-Angst-Inventar (BAI)
  • Zur Erfassung von Angst und Depression bei Patient*innen mit körperlichen Erkrankungen oder (möglicherweise psychogenen) Körperbeschwerden
    • Angst- und Depressionsskala (HADS)

Klinische Untersuchung

  • Viele Angst-Patient*innen kommen mit körperlichen Beschwerden wie Herzklopfen, Schwitzen, Zittern, Mundtrockenheit, Übelkeit, Schmerzen und Muskelverspannungen in die Praxis.
  • Diese Symptome sollen ernst genommen werden, um körperliche Erkrankungen ausschließen zu können.
  • Auch wenn sich die Symptome nicht organisch erklären lassen, dürfen die Beschwerden auf keinen Fall mit „das ist nur psychisch“ abgetan werden.
  • Andererseits ist eine somatische Fixierung durch apparative Überdiagnostik zu vermeiden.
    • nur so viel Diagnostik, wie notwendig ist, damit sich die Behandelnden sicher fühlen
      • technische Untersuchungen nicht zur Beruhigung einsetzen
      • negative Wirkung des Absicherungsverhaltens thematisieren: „Immer mehr Diagnostik wird Ihre Ängste wachsen lassen.“
    • Anamnese und körperliche Untersuchung ggf. wiederholen
    • Ziele und mögliche Ergebnisse der Diagnostik im Voraus mit den Betroffenen besprechen

Basisdiagnostik zum Ausschluss einer organischen Ursache von Angstsymptomen

Ergänzende Untersuchungen – je nach klinischem Verdacht

  • Internistisch
    • Herzecho
    • Röntgen-Thorax
    • 24-Std.-RR
    • 24-Std.-EKG
  • Neurologisch
    • klinische Untersuchung
    • EEG
    • Bildgebung
    • Liquordiagnostik
    • Doppler Halsgefäße und transkraniell
  • HNO
    • Elektronystagmografie
    • Videonystagmografie
    • kalorischer Reflextest
    • Vestibularisprüfung
    • Rotationsprüfung

Indikationen zur Überweisung

  • Voraussetzungen für eine Behandlung in der Hausarztpraxis
    • Patient*innen mit leichter oder mittelschwerer Angststörung
    • lege artis durchgeführte Diagnostik möglicher somatischer und psychischer Erkrankungen
    • adäquate psychotherapeutische Qualifikation der Hausärzt*innen
  • Überweisung zur Psychotherapie
    • nach spätestens 6 Wochen bei nicht ausreichender Besserung
    • wenn die Störung zu erheblichen Funktionseinschränkungen oder Behinderungen im täglichen Leben führt
    • auf Wunsch der Patient*innen
  • Überweisung zu einer Fachärztin/einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
    • unzureichendes Ansprechen auf die empfohlenen Standardmedikamente
      • Reservemedikamente wie Duloxetin, Moclobemid und Buspiron gehören zum Kompetenzbereich von Spezialist*innen.
  • Mögliche Indikationen für eine stationäre oder teilstationäre Behandlung
    • Suizidalität
    • ausgeschöpfte oder nicht verfügbare ambulante Behandlungsmaßnahmen
    • besonders schwere Symptomatik, z. B. ausgeprägtes Vermeidungsverhalten
    • Ko- und Multimorbidität
    • belastendes soziales Umfeld, z. B. eskalierende Konflikte in Paarbeziehung oder Familie

Therapie

Behandlungsindikationen

  • Angststörung nach ICD-10 (s. o.) – oder –
    • mittlerer bis schwerer Leidensdruck der Patient*innen
    • psychosoziale Einschränkungen
    • mögliche Komplikationen, z. B. Suchterkrankung

Therapieziele

  • Angst und Vermeidungsverhalten reduzieren.
  • Lebensqualität verbessern.
  • Rückfallwahrscheinlichkeit reduzieren.
  • Einschränkung der Bewegungsfähigkeit bessern.
  • Soziale Integration verbessern.
  • Berufliche Leistungsfähigkeit wiederherstellen.

Allgemeines zur Therapie

  • Therapiemöglichkeiten1
    • Psychotherapie
      • kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
      • psychodynamische Verfahren
      • Patientenselbsthilfe- und Angehörigengruppen
    • Medikamente
      • SSRI oder Venlafaxin
      • Moclobemid als Reservemedikament
      • Benzodiazepine sollten wegen des hohen Suchtpotenzials vermieden werden.
  • Psychotherapie und/oder Medikamente?
    • keine Wirksamkeitsunterschiede in früheren Vergleichsstudien
      • Eine neuere randomisierte kontrollierte Studie (2016) zeigt jedoch, dass alleinige Psychotherapie (KVT) besser wirkt als Medikamente oder die Kombination (nach 26 Behandlungswochen).2
    • kein Vorteil der Kombination gegenüber einer alleinigen Pharmako- oder Psychotherapie1
    • pro Medikamente
      • schnellerer Wirkeintritt
    • pro Psychotherapie
      • geringeres Rezidivrisiko nach Beendigung der Therapie
    • contra Medikamente
      • Risiken und Nebenwirkungen
    • contra Psychotherapie
      • evtl. begrenzte Verfügbarkeit
  • Dabei soll die Präferenz der informierten Patient*innen berücksichtigt werden. Im Informationsgespräch sollen insbesondere folgende Aspekte eine Rolle spielen:
    • Wirkeintritt
    • Nachhaltigkeit
    • unerwünschte Wirkungen
    • Verfügbarkeit
  • In Fällen, in denen eine Psycho- oder Pharmakotherapie nicht ausreichend wirksam war, soll die jeweils andere Therapieform angeboten werden oder kann eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden.

Empfehlungen für Patient*innen

  • Soziales Training unter Anleitung
  • In leichteren Fällen können gründliche Informationen über die Krankheit helfen, den Teufelskreis aus Angst und Vermeidung zu durchbrechen.
  • Selbsthilfe mithilfe von validierten Büchern und durch Selbstexposition sollte Betroffenen mit einer sozialen Phobie in Abhängigkeit von der Schwere der Symptomatik, dem Funktionsniveau und der Präferenz der informierten Patient*innen als ergänzende Maßnahme zu einer Standardtherapie angeboten werden.

Psychotherapie

Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

  • Wirksamkeit
    • KVT ist das in der Behandlung der sozialen Phobie am besten untersuchte Psychotherapieverfahren.
    • Es gibt verlässliche Wirksamkeitsnachweise aus Metaanalysen randomisiert kontrollierter Studien.1
  • Hintergrund
    • KVT gegen soziale Phobie richtet sich auf den Teufelskreis aus Katastrophendenken („meine Stimme wird zittern, und alle werden denken, ich sei nicht normal“) und Verhalten (Vermeidung), der zu einer erhöhten Situationsangst, einem nicht angemessenen Verhalten und einem negativen Selbstbild führt.
    • Die Patient*innen werden informiert, welche körperlichen Symptome auftreten können und was die physiologische Erklärung ist.
    • Die Betroffenen lernen, die Symptome neu zu bewerten, indem sie alternative und harmlose Erklärungen erwägen.
    • Sie üben alternative Denk- und Handlungsstrategien, wenn unter Exposition Symptome auftreten.
  • Exposition
    • Die Patient*innen werden für kurze Zeit einer Situation ausgesetzt, die mit Ängsten verbunden ist. Danach wird die Exposition schrittweise erhöht, zu immer längeren Zeiten in immer schwierigeren Situationen.
    • Habituation: Nach und nach „gewöhnen“ sich die Betroffenen an die Angst und erleben, dass sie abnimmt.
  • Therapieverlauf
    • Eine Besserung kann innerhalb von 6–12 Wochen erwartet werden.
    • Nach Abschluss der Behandlung kann die Symptomatik weiter zurückgehen.
  • Behandlungsdauer
    • Optimal scheinen 12–16 Einzel- oder Gruppensitzungen zu sein, die einmal wöchentlich stattfinden, wobei jede Sitzung 60–90 min dauert.
    • Die Behandlung umfasst „Hausaufgaben“, d. h. Übungen, die die Patient*innen in ihrem täglichen Umfeld durchführen sollen.
  • Einzel- oder Gruppentherapie
    • Eine Einzel-KVT scheint wirksamer zu sein als eine Gruppen-KVT.
  • Internet- und computergestützte Varianten
    • Zu den bislang bei sozialer Phobie evaluierten Verfahren zählen:
      • KVT über eine manualisierte Anleitung mit Therapeutenkontakt, z. B. über E-Mail oder SMS
      • Virtuelle-Realität-Expositionstherapie
    • Es gibt keine ausreichenden Belege dafür, dass internet- oder computerbasierte therapeutengestützte KVT ebenso gut wirkt wie eine persönliche KVT.
    • Kontrollierte Studien zeigten jedoch, dass solche Verfahren bei sozialer Phobie besser wirken als eine Warteliste. Sie können daher zur Überbrückung bis zum Therapiebeginn oder auch therapiebegleitend angeboten werden.
    • medizinrechtlich problematisch
      • insbesondere wegen der fehlenden Überwachung der Patient*innen, z. B. bezüglich Suizidalität

Psychodynamische Psychotherapie

  • Wirksamkeit
    • In der Therapie der sozialen Phobie weniger gut in kontrollierten Studien untersucht als die KVT.
    • Hinweise auf Unterlegenheit gegenüber der KVT
    • bislang keine Studien mit ≥ 30 Sitzungen
  • Patient*innen mit sozialer Phobie sollte eine psychodynamische Psychotherapie angeboten werden, wenn
    • sich eine kognitive Verhaltenstherapie nicht als wirksam erwiesen hat, nicht verfügbar ist
    • oder eine diesbezügliche Präferenz der informierten Patient*innen besteht.

Systemische Therapie

  • Kann angeboten werden, wenn sich eine KVT oder psychodynamische Psychotherapie nicht als wirksam erwiesen haben, nicht verfügbar sind oder wenn eine diesbezügliche Präferenz der betroffenen Person nach entsprechender Aufklärung besteht
  • Eine verlässliche Bewertung von Nutzen und Schaden der Behandlung im Vergleich zu etablierten Psychotherapieverfahren ist mangels aussagekräftiger Daten bislang nicht möglich.

Patientenselbsthilfe- und Angehörigengruppen

  • Patient*innen und Angehörige sollen über Selbsthilfe- und Angehörigengruppen informiert und, wenn angebracht, zur Teilnahme motiviert werden.

Medikamentöse Therapie

SSRI oder SNRI (Venlafaxin)

  • Erste Wahl in der medikamentösen Therapie der Sozialphobie1
  • Innerhalb von 8–12 Wochen sprechen zwischen 50 % und 80 % der Patient*innen auf die Behandlung an.
  • Vergleiche zwischen SSRI und Venlafaxin ergaben keine signifikanten Unterschiede bei der Wirksamkeit.
  • Näheres zum Nebenwirkungsspektrum und Interaktionspotenzial einzelner Antidepressiva siehe Artikel Depression.
  • Citalopram ist in doppelter Dosis wirkäquivalent zu dem Enantiomer Escitalopram.
  • Tagesdosierungen
    • Escitalopram 10–20 mg
    • Paroxetin 20–50 mg
    • Sertralin 50–150 mg
    • Venlafaxin 75–225 mg
  • Dauer
    • Um Rezidive zu vermeiden, sollte die Behandlung nach eingetretener Remission noch mindestens 6–12 Monate weitergeführt werden.
    • Die Dauer kann verlängert werden, z, B. wenn
      • ein Absetzversuch zu einem Wiederauftreten der Angstsymptomatik führt.
      • der Krankheitsverlauf besonders schwer war.
    • Langzeitstudien belegen die anhaltende Wirksamkeit über Behandlungszeiträume bis zu 12 Monaten.3
    • Absetzen nach 5–12 Monaten resultiert in 20–60 % der Fälle in einem Rezidiv.
  • Langsam ausschleichen.
    • Die Behandlung mit SSRI und SNRI sollte bei Beendigung langsam reduziert werden, um Absetzphänomene zu vermeiden.

Weitere Medikamente

  • Moclobemid
    • Die Studienlage zu dem reversiblen Inhibitor der MAO-A (RIMA) Moclobemid ist inkonsistent.
    • Unter RIMA niedrigere Ansprechraten und Effektstärken als unter SSRI.
    • nur als Reservemedikament
    • Tagesdosierung 300–600 mg
  • Benzodiazepine
    • Sind weniger gut verträglich als SSRI oder SNRI, besitzen Suchtpotenzial und sollten nur in begründeten Ausnahmefällen (z. B. schwere kardiale Erkrankungen, Kontraindikationen für Standardmedikamente, Suizidalität)  verwendet werden.
      • Die Behandlung sollte in der Regel nur für wenige Wochen durchgeführt werden.
      • Nach längerer Behandlung sollten Benzodiazepine sehr langsam (ggf. über mehrere Wochen) ausgeschlichen werden.
      • Dosierungsbeispiel: Lorazepam 1–2,5 mg im akuten Angstanfall
      • nicht mehr als eine N1-Verordnung oder einzelne Tabletten
      • die begrenzte Verschreibungsdauer zu Beginn kommunizieren
      • Rezepte persönlich aushändigen
  • Betablocker
    • In randomisierten Studien zeigten Betablocker bei Angststörungen keine Wirksamkeit auf die Kernsymptomatik.
    • Viele Patient*innen mit Angststörungen haben einen niedrigen Blutdruck oder orthostatische Dysregulation (Cave: Verstärkung durch Betablocker!).
    • Betablocker wurden verwendet, um periphere Angstsymptome bei Musiker*innen mit Lampenfieber zu behandeln, aber diese Ergebnisse können nicht ohne Weiteres auf Patient*innen mit einer sozialen Angststörung übertragen werden.
    • Insgesamt sind Betablocker daher in der Angstbehandlung obsolet.
  • Cannabinoide
    • Angststörungen gehören zu den möglichen Indikationen für den therapeutischen Einsatz von Cannabinoiden.
    • Diese Einschätzung stützt sich auf:
      • Studien an Schmerzpatient*innen, bei denen Angstsymptome unter den Cannabis-Präparaten Dronabinol, Nabilon oder Nabiximols zurückgingen (Näheres siehe Artikel Cannabinoid-haltige Arzneimittel).4
      • Eine kleine Studie, an der 24 Patient*innen mit sozialer Phobie teilnahmen. Diese erhielten randomisiert entweder Cannabidiol (CBD) oder Placebo. Im daraufhin durchgeführten Provokationstest, bei dem die Betroffenen eine Rede halten mussten, zeigten die mit CBD Behandelten niedrigere Angstwerte als die der Placebogruppe.5
    • Weitere randomisiert kontrollierte Studien zur Wirksamkeit von Cannabinoiden bei Angststörungen fehlen bislang.

Rezidivprophylaxe

  • Therapie mit Antidepressiva nach Möglichkeit für mindestens 1 Jahr nach Remission fortsetzen.6

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Die soziale Phobie ist in der Regel eine chronische Störung, die eine langfristige Behandlung erfordert.
  • Bei Patient*innen mit sozialer Phobie, die sich in Behandlung begeben, bestehen die Symptome meist seit 10 Jahren und länger.

Komplikationen

Prognose

  • Spontanremission bei weniger als 1/3 der Patient*innen
  • Mit KVT erreichen nach 10 Behandlungen 70–80 % der Betroffenen eine signifikante Verbesserung oder eine komplette Remission.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Die Behandlung ist anspruchsvoll und erfordert Eigeninitiative, aber die Prognose ist gut.

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Mayo-Wilson E, Dias S, Mavranezouli I, et el. Psychological and pharmacological interventions for social anxiety disorder in adults: a systematic review and network meta-analysis. Lancet Psychiatry 2014 Oct 1;5:368-76. www.thelancet.com
  2. Nordahl HM, Vogel PA, Morken G, et al. aroxetine, Cognitive Therapy or Their Combination in the Treatment of Social Anxiety Disorder with and without Avoidant Personality Disorder: A Randomized Clinical Trial. Psychother Psychosom 2016; 85(6): 346-356. pmid:27744447 PubMed
  3. Williams T, Hattingh CJ, Kariuki CM et al. Pharmacotherapy for social anxiety disorder (SAnD). Cochrane Database Syst Rev 2017; 10(10):CD001206. PMID: 29048739 PubMed
  4. Whiting PF, Wolff RF, Deshpande S et al. Cannabinoids for medical use: A systematic review and meta-analysis. JAMA 2015; 313: 2456–73. PMID: 26103030 PubMed
  5. Bergamaschi MM, Queiroz RHC, Chagas MHN et al. Cannabidiol reduces the anxiety induced by simulated public speaking in treatment-nave social phobia patients. Neuropsychopharmacology 2011; 36: 1219–26. PMID: 21307846 PubMed
  6. Batelaan NM, Bosman RC, Muntingh A, Scholten WD, Huijbregts KM, van Balkom A. Risk of relapse after antidepressant discontinuation in anxiety disorders, obsessive-compulsive disorder, and post-traumatic stress disorder: systematic review and meta-analysis of relapse prevention trials. BMJ. 2017; 358: 3927 PMID: 28903922 PubMed

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg

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