Zusammenfassung
- Definition:Schmerzen des Beckengürtels während und/oder kurz nach der Schwangerschaft.
- Häufigkeit:Prävalenz während der Schwangerschaft bis zu 50 %.
- Symptome:Schmerzen zwischen dem posterioren Beckenkamm und der inferioren Gesäßfalten, vor allem im Bereich der Sakroiliakalgelenke, mit möglicher Ausstrahlung in die dorsalen Oberschenkel und teilweise zusätzlichen Schmerzen im Bereich der Symphyse.
- Befunde:Spezifische klinische Tests mit Schmerzprovokation, vor allem im Bereich der Symphyse und Iliosakralgelenke.
- Diagnostik:Klinische Diagnose nach Ausschluss anderer Schmerzursachen.
- Therapie:Konservative Therapie mit Verzicht auf schmerzauslösende Aktivitäten und ggf. kurzfristige Entlastung durch Unterarmgehstützen oder Beckengurt. Physiotherapie mit Übungen zur Stabilisierung der Rumpf- und Beckenmuskulatur. Akupunktur. Zur medikamentösen Schmerzlinderung ist Paracetamol die 1. Wahl.
Allgemeine Informationen
Definition
- Schmerzen des Beckengürtels während und/oder kurz nach der Schwangerschaft (Pregnancy-related Pelvic Girdle Pain, PPGP)
- Schmerzen zwischen dem posterioren Beckenkamm und der inferioren Gesäßfalten, vor allem im Bereich der Sakroiliakalgelenke, mit möglicher Ausstrahlung in die dorsalen Oberschenkel und teilweise zusätzlichen Schmerzen im Bereich der Symphyse1
- Ausschlussdiagnose: Eine andere Schmerzursache kann nicht festgestellt werden.
- Manche Autor*innen differenzieren zwischen dem anterioren PPGP (Schmerzen der Symphyse) und dem posterioren PPGP (Schmerzen im Gluteal- und Sakroiliakalbereich).2
Häufigkeit
- Prävalenz während der Schwangerschaft: 44–50 %3-4
Ätiologie und Pathogenese
- Multifaktorielle Genese mit mechanischen und hormonellen Ursachen1
- Das Hormon Relaxin erhöht die Laxizität der Bänder im Beckenbereich.
- Die erhöhte Gelenkbeweglichkeit bzw. -instabilität ist vermutlich die Schmerzursache.3
Disponierende Faktoren1
- Kreuzschmerzen oder PPGP in der Vorgeschichte
- Übergewicht, Adipositas
- Anzahl der bisherigen Geburten
- Junges Alter
- Niedriger Bildungsstand
- Geringes Aktivitätslevel vor der Schwangerschaft
- Schwere körperliche Arbeit
- Vorangegangenes Rückentrauma
- Stress
- Depression, Angsterkrankungen
- Positive Familienanamnese4
ICD-10
- O26 Betreuung der Mutter bei sonstigen Zuständen, die vorwiegend mit der Schwangerschaft verbunden sind.
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Klinische Diagnose durch Anamnese und körperliche Untersuchung
- Voraussetzung für die Diagnose sind die Reproduzierbarkeit der Schmerzen bzw. Funktionsstörungen durch spezifische klinische Tests sowie der Ausschluss anderer Ursachen für lumbale Schmerzen.5
Differenzialdiagnosen
- Myogelosen im Gesäß- und Hüftbereich
- Hüftgelenkserkrankungen, z. B. Hüftgelenksdysplasie
- Morbus Bechterew
- Lumbaler Bandscheibenvorfall
- Spondylolisthesis
- Beckenvenenthrombose
Anamnese
- Typische Symptomatik1
- Schmerzen zwischen dorsaler Beckenschaufel und den inferioren Gesäßfalten, oft mit Betonung des Bereichs der Sakroiliakalgelenke
- Ausstrahlung in die dorsalen Oberschenkel oder Leisten möglich
- auch Schmerzen ventral in der Symphysengegend möglich
- Beginn in der Regel in der 1. Schwangerschaftshälfte3
- Schmerzprovokation bzw. -verstärkung durch alltägliche Aktivitäten wie Laufen, Stehen, Sitzen und Hinlegen2
- Abfragen von Risikofaktoren, u. a.:
- positive Familienanamnese
- Trauma
- Kreuzschmerzen oder PPGP in der Vorgeschichte
- schwere berufliche Tätigkeit
- Hüftgelenkserkrankungen, z. B. Hüftgelenksdysplasie
- Red Flags bei Rückenschmerzen, u. a.:
- langfristige Einnahme von Glukokortikoiden
- bekannte Osteoporose
- Trauma
- B-Symptomatik
- Beeinträchtigung bei alltäglichen Aktivitäten oder im Beruf?
- Bisher durchgeführte Diagnostik und Therapie sowie Erfolg der bisherigen Therapiemaßnahmen
Klinische Untersuchung
- Die Angaben basieren auf der europäischen Leitlinie (Cave: Stand 2008, seitdem nicht aktualisiert!).5
- Die klinischen Tests sind alle sehr spezifisch, jedoch nicht sensitiv.
- Daher sollten nach Möglichkeit alle Tests durchgeführt werden.
- Ein Test als Goldstandard existiert nicht.
- Active Straight Leg Raise Test
- Patientin in Rückenlage, Beine gestreckt
- Anheben der Fersen 20 cm über den Boden, ohne die Knie zu beugen.
- Positiv: Unfähigkeit oder starke Schwierigkeit, den Test durchzuführen.
- Palpation der Symphyse
- Positiv: Druckdolenz der Symphyse, die auch 5 sec nach Entfernen des Drucks persistiert.
- Schmerzprovokation der Symphyse durch modifizierten Trendelenburg-Test
- Patientin steht auf einem Bein.
- anderes Bein 90 Grad gebeugt in Hüft- und Kniegelenk
- positiv: Schmerzen im Bereich der Symphyse
- Posterior Pelvic Pain Provocation Test
- Patientin in Rückenlage
- Hüftgelenk der zu untersuchenden Seite 90 Grad gebeugt
- Untersucher*in übt leichten axialen Druck aufs Kniegelenk aus.
- Untersucher*in fixiert mit anderer Hand das kontralaterale Becken durch Druck auf die Spina iliaca anterior superior.
- positiv: Schmerzauslösung im Gluteal-/Sakroiliakalbereich
- Patrick's Faber Test
- Patientin in Rückenlage
- Bein auf zu der untersuchenden Seite abduziert, flektiert und außenrotiert, sodass die Ferse auf dem kontralateralen Knie ruht.
- Untersucher*in übt auf der zu untersuchenden Seite leichten Druck auf das Kniegelenk Richtung Boden aus.
- positiv: Schmerzen im Bereich des Sakroiliakalgelenks oder der Symphyse
- Gänslen-Test
- Patientin in Rückenlage
- Hüfte und Knie werden gebeugt, die Knie werden mit den Händen von der Patientin zur Brust gezogen.
- Patientin rutscht seitlich, bis ein Bein über den Seitenrand der Liege hängt.
- Das überhängende Bein wird im Hüftgelenk in Extension gebracht.
- Untersucher*in übt sanften Druck auf beide Kniegelenke aus, d. h. ein Hüftgelenk wird in Flexion und das überhängende Hüftgelenk in Extension gebracht.
- positiv: Schmerzen im Bereich des Sakroiliakalgelenks
- Test des sakroiliakalen Ligaments (Durchführung für schwangere Patientinnen beschrieben)
- Patientin in Seitenlage
- Hüft- und Kniegelenk leicht gebeugt
- Palpation des sakroiliakalen Ligaments direkt unterhalb der Spina iliaca posterior superior
- Positiv: Druckdolenz, die auch 5 sec nach Entfernen des Drucks persistiert.
Differenzialdiagnostische Untersuchungen
- Überprüfung pDMS
- Ausschluss radikulärer Symptomatik
Weitere Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- In der Regel nicht notwendig
- Labor bei Verdacht auf Systemerkrankungen, z. B.
- Inflammationsparamater bei V. a. rheumatoide Arthritis
- HLA-B27 bei V. a. Morbus Bechterew
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Bildgebung nur zur Abgrenzung von Differenzialdiagnose notwendig, z. B.
- V. a. Spondylolisthesis: Röntgen der Lendenwirbelsäule
- V. a. lumbalen Bandscheibenvorfall: MRT der Lendenwirbelsäule
- V. a. Sakroiliitis: Röntgen oder MRT der Sakroiliakalgelenke
- u. a. bei Morbus Bechterew oder Psoriasarthritis
- Bei schwangeren Patientinnen ist die Indikation zum Röntgen wegen der Strahlenbelastung nur in Ausnahmesituationen gerechtfertigt. MRT in der Schwangerschaft nur ohne Kontrastmittel.
Indikationen zur Überweisung
- Bei persistierenden Schmerzen nach der Geburt Überweisung an Orthopäd*in, um muskuloskelettale Differenzialdiagnosen auszuschließen.
Therapie
Therapieziele
- Schmerzen lindern.
- Funktionsfähigkeit im Alltag verbessern.
Allgemeines zur Therapie
- Die konservative Behandlung ist die Therapie der 1. Wahl.6
- Physiotherapeutisches Training kann das Auftreten von PPGP nicht verhindern, aber die regelmäßige körperliche Aktivität reduziert signifikant die Krankheitstage während der Schwangerschaft.7
- Sowohl während als auch nach der Schwangerschaft werden daher von der Leitlinie individuelle Übungsprogramme zur Stabilisierung des Beckengürtels empfohlen.5
- Cave: im Cochrane-Review keine nachgewiesene Wirkung auf PPGP, jedoch positiver Effekt auf Rückenschmerzen in der Schwangerschaft! 8
- Schmerzhafte Aktivitäten sollen vermieden werden.
- Sowohl während als auch nach der Schwangerschaft werden daher von der Leitlinie individuelle Übungsprogramme zur Stabilisierung des Beckengürtels empfohlen.5
- Die Patientinnen sollten über die gute Prognose und die mehrheitlich spontane Symptomlinderung nach der Geburt aufgeklärt werden.5
Konservative Therapie
- Medikamente
- zur Schmerzlinderung als 1. Wahl Paracetamol, 2. Wahl NSAR5
- z. B. Paracetamol 500 mg 1–1–1–1 bzw. Ibuprofen 400 mg 1–1–1
- Cave: Ibuprofen ist im 3. Trimenon (ab 28. Schwangerschaftswoche) kontraindiziert!
- zur Schmerzlinderung als 1. Wahl Paracetamol, 2. Wahl NSAR5
- Physiotherapie
- Manuelle Therapie
- vermutlich kleiner positiver Effekt8
- Akupunktur
- Injektionen in das Ligamentum sacrospinale12
- transvaginale Injektion von Triamcinolon und Lidocain
- in einer randomisierten, kontrollierten Studie mit 36 Patientinnen mit persistierenden postpartalen Schmerzen signifikante Schmerzreduktion
- Unterarmgehstützen/Rollstuhl oder stabilisierender Beckengurt/Korsett
- nur in Ausnahmefällen bei starken Schmerzen zur kurzzeitigen Entlastung5
Operative Therapie
- Ultima Ratio bei therapierefraktären Beschwerden über einen langen Zeitraum (> 3 Monate nach Geburt)
- Diagnostische Infiltration des Sakroiliakalgelenks empfohlen, bevor über eine operative Fusion des Gelenks nachgedacht wird.5
Prävention
- Regelmäßige körperliche Aktivität vor und während der Schwangerschaft13
- Vermeidung von Übergewicht vor und während der Schwangerschaft14
- Stillen scheint bei Frauen mit einem BMI ≥ 25 kg/m2 einen kleinen Nutzen in Hinblick auf die Genesung bei PPGP zu haben.15
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die Schmerzen beginnen typischerweise in der ersten Hälfte der Schwangerschaft und hören kurz nach der Geburt spontan auf.3
Komplikationen
- Frauen mit PPGP leiden vermehrt unter:16
- psychischen Verstimmungen (Depression, Ängstlichkeit)
- Schlafstörungen
- reduzierter Lebensqualität
- verminderter Fähigkeit zur Durchführung alltäglicher Aktivitäten
- Manche Frauen sind auf Unterarmgehstützen oder Rollstuhl angewiesen.1
- Arbeitsunfähigkeit.1
Prognose
- Die Mehrheit der Frauen berichtet über eine spontane Erholung und Beschwerdefreiheit innerhalb von 3 Monaten nach der Geburt.14
Patienteninformation
Worüber sollten Sie die Patientinnen informieren?
- PPGP ist eine ungefährliche Erkrankung, die in den meisten Fällen nach Beendigung der Schwangerschaft zurückgeht.
- Eine gleichmäßige Belastung der Beine ist wichtig. Beim Tragen soll das Gewicht auf beide Arme verteilt sein, und es sollte vorzugsweise ein Rucksack verwendet werden.
- Körperliche Aktivität sollte die Schmerzgrenze nicht überschreiten.
Illustrationen

Becken, normal, Zeichnung

Röntgenbild, Becken 1) Trochanter major 2) Oberschenkelhals 3) Caput femoris 4) Beckenschaufel 5) Os coccygis 6) Symphyse 7) Tuber ischiadicum
Quellen
Literatur
- Wuytack F, Begley C, Daly D. Risk factors for pregnancy-related pelvic girdle pain: a scoping review. BMC Pregnancy and Childbirth 2020. link.springer.com
- Fagevik Olsen M, Elden H, Gutke A. Evaluation of self-administered tests for pelvic girdle pain in pregnancy. BMC Musculoskelet Disord 2014; 15: 138. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Ahlqvist K, Bjelland EK, Pingel R, et al. The Association of Self-Reported Generalized Joint Hypermobility with pelvic girdle pain during pregnancy: a retrospective cohort study. BMC Musculoskeletal Disorders 2020. link.springer.com
- Ceprnja D, Chipchase L, Fahey P, et al. Prevalence and factors associated with pelvic girdle pain during pregnancy in Australian women. Spine 2021; 14: 944-49. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Vleeming A, Albert HB, Östgaard HC, Stuge B. European guidelines for the diagnosis and treatment of pelvic girdle pain. Eur Spine J 2008; 17: 794-819. PubMed
- Shnaekel KL, Magann EF, Ahmadi S. Pubic Symphysis Rupture and Separation During Pregnancy. Obstet Gynecol Surv 2015; 70(11): 713-8. doi:10.1097/OGX.0000000000000247 DOI
- Stafne SN, Salvesen KA, Romundstad PR, et al. Does regular exercise during pregnancy influence lumbopelvic pain? A randomized controlled trial. Acta Obstet Gynecol Scand 2012;91:552-9. doi: 10.1111/j.1600-0412.2012.01382.x DOI
- Liddle SD, Pennick V. Interventions for preventing and treating low-back and pelvic pain during pregnancy. Cochrane Database of Systematic Reviews 2015, Issue 9. Art. No.: CD001139. DOI: 10.1002/14651858.CD001139.pub4. DOI
- Elden H. Treatment modalities for pelvic girdle pain in pregnant women (doctorate). The Institute for Clinical Sciences, Sahlgrenska Academy, Göteborg University, Göteborg, Sweden, 2008. gupea.ub.gu.se
- Stuge B, Laerum E, Kirkesola G, Vøllestad N. The efficacy of a treatment program focusing on specific stabilizing exercises for pelvic girdle pain after pregnancy: a randomized controlled trial. Spine (Phila Pa 1976) 2004; 29: 351-9. pmid:15094530 PubMed
- Elden H, Ladfors L, Olsen MF, Ostgaard HC, Hagberg H. Effects of acupuncture and stabilizing exercises as adjunct to standard treatment in pregnant women with pelvic girdle pain: randomised single blind controlled trial. BMJ 2005; 330: 761. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Torstensson T, Lindgren A, Kristiansson P. Corticosteroid injection treatment to the ischiadic spine reduced pain in women with long-lasting sacral low back pain with onset during pregnancy: a randomized, double blind, controlled trial. Spine 2009; 34: 2254-8. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Owe KM, Bjelland EK, Stuge B, et al. Exercise level before pregnancy and engaging in high-impact sports reduce the risk of pelvic girdle pain: a population-based cohort study of 39 184 women. Br J Sports Med 2015. doi:10.1136/bjsports-2015-094921 DOI
- Wiezer M, Hage-Fransen MAH, Otto A, et al. Risk factors for pelvic girdle pain postpartum and pregnancy related low back pain postpartum; a systematic review and meta-analysis. Musculoskeletal Science and Practice 2020. www.sciencedirect.com
- Bjelland E, Owe K, Stuge B, et al. Breastfeeding and pelvic girdle pain: a follow-up study of 10 603 women 18 months after delivery. BJOG 2014. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Ceprnja D, Chipchase L, Liamputtong P, et al. “This is hard to cope with”: the lived experience and coping strategies adopted amongst Australian women with pelvic girdle pain in pregnancy. MC Pregnancy and Childbirth 2022. bmcpregnancychildbirth.biomedcentral.com
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster